von stephan | Geschätzte Lesezeit: 5 Minuten
Konzert im Autokino

Konzert im Autokino  ·  Quelle: Photo by Jorge Zapata on Unsplash

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Die Eventbranche ist aktuell auf der Suche nach neuen Lösungen. Unser Autor hat zum ersten Mal ein Konzert im Autokino gegeben. Wie es sich anfühlt vor 400 Autos zu spielen.

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Wie alles begann

2020 hätte so gut werden können. Für mich sogar potentiell eines der besten Jahre, seit ich Freiberufler bin. Ich verdiene einen großen Teil meines Einkommens als Livemusiker. Mit dem Beschluss, alle Großveranstaltungen bis zum 31. August 2020 zu untersagen, sind mir 55 Engagements weggebrochen. Möglicherweise folgen noch mehr. Bei all meinen Freunden und Kollegen aus der Eventbranche sah es gleich aus: Auf einen Schlag leerte sich der Kalender, eine Besserung vor dem Jahreswechsel ist nicht in Sicht. Dann kam plötzlich eine Anfrage für ein Konzert im Autokino.

Bleibt alles anders.

Schon weit vor Beginn der Veranstaltung ist auch drumherum vieles ungewohnt. Eine herzliche Begrüßung mit den langjährigen Bandkollegen entfällt natürlich. Jeder sitzt auf Abstand im Backstagebereich und versucht sich so normal wie eben möglich zu verhalten. Die Bühne vor der Leinwand des Düsseldorfer Autokinos ist extrem breit, allerdings nur drei Meter tief und größtenteils nicht überdacht. Daher stehen nur die Vokalisten in der Mitte. Der Rest der Band ist auf die Seiten verteilt: Gitarre, Bass und Drums links, zwei Keyboards rechts. Dazwischen liegen 40 Meter Abstand! Das nenne ich mal Social Distancing. ;o) Der bei Schlussabschlägen wichtige Sichtkontakt entfällt also schon mal. Auch stand der Monitormann viel zu weit entfernt, um nach Beginn der Liveübertragung Änderungswünsche mitteilen zu können.

Konzert im Autokino – die Technische Umsetzung

Eine PA gibt es nicht! Unsere Show lief komplett über In-Ear-Monitoring und einige wenige Wedges. Mit einem kräftigen Sender wird der Livemix für das Publikum auf eine Radiofrequenz geschickt. Manch einer hatte über sein Autoradio vielleicht sogar einen besseren Klang als in einer großen Mehrzweckhalle. Das Geschehen wird von einem Kamerateam gefilmt und auf die riesige Leinwand übertragen. So hat auch die letzte Reihe eine hervorragende Sicht. Übrigens muss sich niemand über eine leere Autobatterie sorgen, denn es stehen zu jeder Zeit Hilfen mit Akkupacks bereit.

Das Spielgefühl ist ungewohnt. Wer die Kopfhörer rausnimmt oder sein Auto verlässt, hört nur noch das Schlagzeug. Andererseits ist es auch sehr cool mal nicht einer Subwoofer-Welle stehen zu müssen. Eigentlich war das größte Problem die Entfernung der Musiker untereinander.

Können da überhaupt Emotionen aufkommen?

Es mag blöd klingen, aber als während einer Ballade die Warnblinker aller 400 Fahrzeuge eingeschaltet wurden, kam tatsächlich eine Art Romantik auf. Feuerzeuge oder Telefone mit LED-Licht wurden aus dem Schiebedach gehalten. Und dann ist da natürlich noch das Gehupe. Es wirkt zunächst komplett irritierend, ist aber wirkungsvoll: Applaus wird eigentlich nur über die Hupe und Lichtsignale ausgedrückt. Ich habe mich schnell daran gewöhnt und beobachtet, dass sich mein Gehirn umprogrammiert. Das Geräusch der Hupe, die als unangenehmes Warnsignal abgespeichert ist, entwickelt sich zum Ersatz für Beifall. Einige Besucher beschrieben den Abend wie ein intimes Privatkonzert. Für sie sei es ein ganz besonderer Abend gewesen.

Kritik: „Ich spiele nicht vor Autos.“

Nicht bei allen stößt die Vorstellung auf Zuspruch. Helge Schneider sagt konsequent: „Ich spiele nicht vor Autos.“ Live streamen tut er übrigens auch nicht. Ich kann ihn verstehen. Ein Programm, das vom Austausch mit dem Publikum lebt, funktioniert so nicht. Klar ist das bescheuert! Aber eine Branche, die in die Knie gezwungen wurde, sucht gerade händeringend nach Alternativen, um in der aktuellen Situation bestehen zu können.

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Nicht jeder kann es sich leisten auf unabsehbare Zeit auszusetzen. Mieten müssen bezahlt und der Kühlschrank gefüllt werden. Vielleicht relativiert sich bei dem einen oder anderen auch die Ablehnung, wenn er es aus der Sicht des Publikums betrachtet: Denn nicht nur wir Musiker, sondern auch die Konzertbesucher kommen nach vielen Wochen endlich wieder raus, können dem Alltag entfliehen und erleben gemeinschaftlich ein besonderes Erlebnis, von dem sie wieder Kraft schöpfen können. Live dabei zu sein ist eben doch anders als Netflix oder YouTube.

Das Format der Zukunft?

Das Konzert im Autokino ist definitiv eine tolle Erfahrung! Allerdings bin ich nicht sicher, ob sich das Format dauerhaft behaupten kann, wenn die gewohnten Venues eines Tages wieder öffnen. Auf Grund der geringen Teilnehmerzahl sind finanziell keine Wunder möglich. Die Platzmieten sind jüngst rasant angestiegen und auch ein Kamerateam kostet viel Geld.

Trotzdem bin ich fest davon überzeugt, dass die Branche neue Ideen nötig hat. In den USA sind längst die meisten Konzerte nur noch bestuhlt und auch hierzulande verkaufen sich Stehplätze immer schlechter. Die Menschen wollen sitzen! Ein anderes Problem: Ich selbst war so oft vom schlechten Klang in Mehrzweckhallen enttäuscht, dass ich mich damit abgefunden habe einige Bands nicht live zu sehen, da sie nur in suboptimalen Sporthallen auftreten. Vielleicht erleben wir bald den Beginn eines neuen Zeitalters mit Kopfhörerkonzerten an ungewöhnlichen Orten.

Am Ende bin ich glücklich, froh und sehr dankbar, endlich wieder live spielen zu dürfen. Ich freue mich schon auf die nächsten Shows, denn es wurden weitere Termine hinzugefügt. Habt ihr schon eine Veranstaltung im Autokino besucht? Wie fühlt sich das an? Würdet ihr es wieder tun?

Videos

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https://www.youtube.com/watch?v=-znu-3ksHRg

Bildquellen:
  • Gute Sicht auch ganz hinten. : unbekannt
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7 Antworten zu “Konzert im Autokino: Wie es sich anfühlt, vor Autos zu spielen”

    Marc sagt:
    0

    „In der Not frisst der Teufel Fliegen“, sagt man. Ist doch ’ne super-coole Sache, dass Musiker trotz der aktuellen Situation kreativ bleiben bzw. werden, um Lösungen zu finden, die es ihnen ermöglichen, live aufzutreten, das Publikum zu unterhalten und ihren eigenen Lebsnunterhalt zu verdienen. Wenn z.B. Tim Bendzko, Sido u.a. dies durchziehen, find ich das echt klasse, für alle Beteiligten. Neue Wege tun sich (zwangsweise) auf! Das ist eben (Improvisations-)Kunst. Großartig!

    Sebastian Opitz sagt:
    0

    Hunderte zeitweise laufende Verbrennermotoren würden mich auf der Bühne abtörnen. Gestank, Ressourcenverschwendung und Stickoxide sind wichtige Gründe gegen Autokinos. Wir haben diese Option noch nicht so dringend nötig, denn es gibt genug schonendere Möglichkeiten für Sozialverhalten und Musikgenuss.

      Marc sagt:
      0

      Frage: Bist Du jemals selbst in einem Autokino gewesen? Vermutlich nicht, und das ist auch total okay so. Aber hier mal zur allgemeinen Info: Dort, also im Autokino, herrscht MOTOR-AUS!-PFLICHT während der gesamten Vorführung, so dass sich niemand über potentiell drohende Kohlenmonoxid-Vergiftung und/oder Umweltbelastung zu sorgen braucht.
      Warte mal ab, bis AR (augmented reality) so richtig Einzug ins Auto findet – sagen wir mal in etwa 5 – 7 Jahren -, dann werden da noch ganz andere Sachen möglich sein im Autokino. Und diese Technologie wird dann auch häufig, regelmäßig und gern genutzt werden. Ob wir das nun gutheißen, oder nicht, es wird passieren.

    Toni sagt:
    0

    Ich finde es beschämend – sowohl für die Künstler als auch für das Publikum.

      marcus sagt:
      0

      Wieso beschämend? Ist es nicht für jeden Künstler mehr als cool seine Musiker, etc. darbieten zu können? Und das egal wo und wann sich eine Möglichkeit hierfür ergibt? Viele spielen auch in Einkaufszentren und an Straßenecken. Oder ist das in deinen Augen auch beschämend? Ich denke, dass jede Möglichkeit, die sich zur Zeit ergibt (und wohl auch noch auf nicht absehbare Zeit!), ergriffen werden sollte. Das ist auch für Fans die einzige Möglichkeit eine Art Konzert zu erleben…

      claudius sagt:
      0

      Warum nicht neue Wege in dieser Krise ergründen? Beschämend empfinde ich nur Konzerte in Mehrzweckhallen, wo mehr Hall(e) als PA zu hören ist.

    Eleni Be sagt:
    0

    Halte ich aus MusikerInnensicht für 1. eine sehr gute Idee, 2. eine tragfähige Alternative und aus ZuhörerInnensicht in den meisten Fällen für besser als jedes Großkonzert inmitten einer drängelnden Menge, ohne ausreichende Sicht und oft auch mit standortbedingt unausgewogenem Sound.
    Die vielbeschworene „Live-Atmosphäre“ ist total überschätzt und höchstens in Club-Settings fein.

    Weitaus problematischer ist die viel kleinere Anzahl solcher alternativer Auftrittmöglichkeiten.

    Und es mag schon sein, dass sich viele vor Streaming scheuen – aber ganz ehrlich: Wenn ich Musik mache, muss ich damit zurechtkommen. Kann ich das nicht oder will es nicht, muss ich damit leben, aus dieser Welt gefallen zu sein. Das ist manchmal schade, meistens nicht und cool oder elitär ist es auch nicht. Man denkt sich höchstrens seinen Teil.

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