von Jan Rotring | Geschätzte Lesezeit: 9 Minuten
Grunge Gitarre: Der Klang der 90er

Grunge Gitarre: Der Klang der 90er  ·  Quelle: Fabio Diena / Alamy Stock Foto

ANZEIGE

Mit dem Sound der Grunge Gitarre habe ich eine sehr persönliche Verbindung. Es war irgendwann in den Neunzigern und ich gerade alt genug, um MTV zu entdecken: Ein schlecht beleuchtetes Turnhallen-Setting, ein apathisches Publikum – und dieser irgendwie kaputte Sound. Als „Smells Like Teen Spirit“ von Nirvana losging, war für mich klar: Ich muss das auf Gitarre spielen. Kein „vielleicht“, kein „mal ausprobieren“. Es klang genau so, wie ich mich fühlte. Doch, was macht den Sound der Grunge Gitarre eigentlich aus?

ANZEIGE

Was mich damals packte, war ja nicht das schiere Können – Cobain war nun wirklich kein Gitarrengott im klassischen Sinn – sondern eher die rohe Emotion und der Hauch von Gefahr, der von dieser Musik ausging. Anders als die Metalbands, die mich früh beeinflusst haben, sind die ganzen Größen des Grunge nicht durch besonders abgefahrene Produktionen, epische Harmonien oder extreme Soli aufgefallen. Grunge war damals für mich sehr viel nahbarer, greifbar und irgendwie realistisch „erreichbar“. 

Der konzentrierte Blick auf das, was da eigentlich aus den Lautsprechern kommt, ist absolut empfehlenswert. Denn auch wenn die allermeisten Idole dieser Zeit nicht mehr unter uns weilen, sie haben die Musikgeschichte innerhalb kürzester Zeit geprägt. Und ich habe jetzt die Chance, gemeinsam mit euch näher hinzuschauen, was den Sound der Grunge Gitarre ausmacht. 

Kein Schönklang – warum die Grunge Gitarre so anders klang

Stone Gossard von Pearl Jam: Meister der Grunge Gitarre
Stone Gossard von Pearl Jam: Meister der Grunge Gitarre · Quelle: WENN Rights Ltd / Alamy Stock Foto

Der Grunge kam wie ein Konter auf das überproduzierte Gitarren-Overkill der 80er. Während Slash auf seinem Verstärker-Turm endlose Soli zelebrierte und Eddie Van Halen fröhlich tappte, entstand da plötzlich dieser Sound aus Seattle: Irgendwie müde, kaputt und wütend. Passt wie die Faust aufs Auge zu einer Stadt wie Seattle. Auch wenn ich es dort geliebt habe, eine gewisse „Trostlosigkeit“ kann man ihr nicht absprechen. 

Die Grunge Gitarre definierte sich, wie die gesamte Musikrichtung auch, nicht durch technische Brillanz, sondern durch eine innere Haltung. Vielleicht ist das auch der Grund, dass der Sound bei so vielen Teenagern der damaligen Zeit einen Nerv getroffen hat. 

Wenn man genau hinhört und penibel drauf achtet, ist der Sound eben nicht „gut“: Die Verzerrung war oft zu viel des Guten, der Klang matschig, das Spiel ungenau – aber genau das machte es so faszinierend und so nahbar. Es ist der Sound einer Generation, die keine Lust auf Hochglanz hatte. Und die Gitarre war das Werkzeug, das auszudrücken.

Die Zutaten des Grunge-Sounds

ANZEIGE

Was also macht den typischen Sound der Grunge Gitarre aus? Ein 100-prozentiges Rezept gibt es nicht, aber gewisse Zutaten tauchen doch immer wieder auf:

  • Gitarrenmodelle: Die Grunge Gitarre war selten edel. Fender MustangJaguar oder Jazzmasterwaren beliebt – oft aus zweiter Hand, gerne auch kaputtgeliebt. Auch günstige Squier-Modelle fanden ihren Platz, solange sie laut genug krächzten.
  • Pickups: Humbucker in Single-Coil-Gitarren, falsch verlötete Schaltungen, defekte Potis – Hauptsache, es klang nach Ärger.
  • Verzerrer: Der Boss DS-1 und DS-2 gehören in jedes Grunge-Gitarren-Setup. Auch der Electro-Harmonix Big Muff war gern gesehen, ebenso die ProCo RAT. Keine Boutique-Sounds, sondern aggressive, kratzige Zerre.
  • Tunings: Drop D ist bei vielen Bands der Ära beinahe Standard, tiefer gestimmte Instrumente ebenso. Klingt ja auch sofort schwerer und grummeliger.
  • AmpsMarshall JCM800Fender Twin Reverb oder auch mal ein Mesa Boogie – meist so eingestellt, dass es nach einem dringend notwendigen Setup klingt. Clean? Eher selten und wenn, dann eher per Akustikgitarre.

Was beim Grunge zählt, ist nicht Perfektion, sondern die rohe Emotion: Eine gute Priese Verzweiflung gepaart mit Aggression. Und wie sich im Laufe der Zeit herausstellte, passten die kaputten und zerrissenen Gitarrensounds oftmals nur zu gut auf eine ganze Reihe großartiger Gitarristen

Affiliate Links
Fender 65 Twin Reverb
Fender 65 Twin Reverb
Kundenbewertung:
(39)
Proco Rat 2 Distortion
Proco Rat 2 Distortion
Kundenbewertung:
(1425)

Die Anti-Gitarrenhelden

Kim Thayil und Chris Cornell: Soundgarden
Kim Thayil und Chris Cornell: Soundgarden · Quelle: PA Images / Alamy Stock Foto

Im Grunge ging es nie um Glamour, und die Gitarristen waren per se keine Posterboys für Hochglanzmagazine. Wer hier zur Gitarre griff, wollte in erster Linie Dampf ablassen. Die Helden des Genres waren nicht im klassischen Sinne virtuos, aber gerade das machte sie so einflussreich.

Kurt Cobain – Der König der kaputten Sounds

Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von YouTube. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.

Mehr Informationen

Kurt Cobain war der vorzeige Künstler der Grunge Gitarre. Seine Fender Mustangs und Jaguars waren oft modifiziert, meist beschädigt und klangen vermutlich genau deshalb so „richtig“. Wichtigster Bestandteil seines Sounds war das Boss DS-1 (später auch DS-2) Distortion-Pedal. Cobain spielte kein High-Gain-Gewitter, sondern bissige, kratzige Verzerrung, die immer irgendwie kurz davor war, auseinanderzufallen.

Cobains Spielweise war kompromisslos: Powerchords, aggressiv angeschlagen, keine Rücksicht auf Verluste. Seine Soli sind mehr Lärm als Linie – und trotzdem (oder gerade deshalb) unvergesslich. Der Mann hat bewiesen, dass man mit drei Akkorden, einem kaputten Sound und maximaler Attitüde Musikgeschichte schreiben kann.

Affiliate Links
Fender Kurt Cobain Jaguar LH
Fender Kurt Cobain Jaguar LH
Kundenbewertung:
(22)

Jerry Cantrell – Metalhead im Flanellhemd

Alice in Chains waren immer der düsterste Vertreter der Grunge-Welle – und Gitarrist Jerry Cantrell brachte eindeutig mehr Metal-DNA mit. Sein Sound ist fetter, tiefer und deutlich kontrollierter als der von Cobain. Die oft tiefer gestimmten Gitarren, bevorzugt Les Pauls und G&L-Modelle, treffen auf Amps von Mesa Boogie — trifft zumindest meinen Nerv nahezu perfekt.

Trotz seiner unbestrittenen technischen Fähigkeiten blieb Cantrell immer dem Grundprinzip des Grungetreu: Emotion über Präzision. Seine Riffs und Soli sind durchzogen von einer melancholischen Grundstimmung, die sich perfekt mit der Stimme von Layne Staley ergänzt haben. 

(Der Vollständigkeit halber sei gesagt, dass auch der neue Kram mit William DuVall echt Hammer ist!)

Affiliate Links
Gibson Les Paul Custom EB GH
Gibson Les Paul Custom EB GH
Kundenbewertung:
(115)

Kim Thayil

Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von YouTube. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.

Mehr Informationen

Soundgarden-Gitarrist Kim Thayil ist der vielleicht experimentierfreudigste unter den Grunge-Gitarristen. Er liebt ungewöhnliche Tonleitern, dissonante Akkorde und eigenwillige Tunings. Seine Gitarre ist oft keine Begleitung, sondern ein zweiter Sänger – mal klagend, mal wütend, mal chaotisch — der es schafft, gegen die Naturgewalt Cornell anzukommen.

Thayils bevorzugte Gitarren kommen von Guild und sein Pedalboard war erstaunlich übersichtlich. Viel wichtiger ist im Soundgarden-Zusammenhang, wie die Gitarre auf den Raum reagiert – Feedbacks und Resonanzen sind Teil seines Sounds. Ein bisschen Jazz trifft auf Doom trifft auf Seattle und herauskommt: Grunge Gitarre à la Soundgarden.

Affiliate Links
Guild Polara Kim Thayil
Guild Polara Kim Thayil
Kundenbewertung:
(4)

Gossard & McCready – Pearl Jam

Bei Pearl Jam hat man gleich zwei Gitarristen, die sich perfekt ergänzten: Stone Gossard sorgt für die schweren Riffs, Mike McCready für die Soli. Ihre Einflüsse reichten von Hendrix bis Punk – und das hört man. Den Pearl Jam Sound habe ich bereits einmal zum Thema meiner Kolumnen gemacht: Der Pearl Jam Sound

Wer sich „Alive“ oder „Even Flow“ mal bewusst anhört, merkt: Hier wurde die Grunge Gitarre deutlich weiterentwickelt und, für die Szene vertretbar, massentauglich gemacht.

Grunge und der Charme des Unperfekten

Grunge Gitarre: Heimat Seattle
Grunge Gitarre: Heimat Seattle · Quelle: Jan Rotring

Grunge war immer schon hauptsächlich Haltung und hat sich dabei stark vom Punk inspirieren lassen. Und das zeigte sich besonders deutlich im Umgang mit Equipment. Wer auf der Bühne stand, hatte selten teures Gear dabei. Stattdessen: zusammengeschusterte Setups, wild modifizierte Gitarren, und Effektpedale, die aussahen, als hätten sie einen Hausbrand gerade noch so überstanden. 

Viele Grunge-Gitarristen behandelten ihr Equipment nicht wie heilige Reliquien, sondern wie ungeliebte Gebrauchsgegenstände – mit Ecken, Macken und Geschichte. Diese Do-it-yourself-Mentalität war durchaus kalkulierter Teil des Sounds: Denn wenn du dein Pedal und deine Gitarre nicht reparierst, sondern einfach auf dem Boden zusammenschlägst und weiterverwendest, klingt das Ergebnis… na ja, eben nach Grunge Gitarre. Und das ganze hat irgendwie gut funktioniert — bis heute. Wer eine Anleitung braucht, findet sie hier: Gitarre zerstören

Grunge Gitarre 2025: Retro ist das neue Jetzt

Auch wenn der große Hype längst vorbei ist – die Grunge Gitarre lebt. Und das nicht nur im Herzen nostalgischer 90s-Kids (räusper), sondern auch auf aktuellen Bühnen und in Schlafzimmer-Studios rund um den Globus. Junge Bands greifen wieder zu schmutzigen Tunings, sägenden Fuzz-Sounds und heruntergestimmten Gitarren. Das Erbe des Grunge ist lebendig – nur das Flanellhemd ist mittlerweile optional.

Und auch die Industrie hat den Trend erkannt: Zahlreiche Effektpedale zielen heute genau auf den „kaputten“ Sound der Neunziger ab. Ob der JHS Smiley (eine Hommage an alte Fuzz Faces) oder der Electro-Harmonix Op-Amp Big Muff – wer den Grunge Gitarrensound sucht, findet heute mehr Auswahl denn je. Selbst digitale Alleskönner wie das Line 6 HX Stomp oder Plugins von Neural DSP bieten fertige Grunge-Presets an.

Und auch der DIY-Gedanke des Grunge lebt weiter: Auf YouTube lernen wir, wie man sich einen Cobain-Sound mit Billig-Gear nachbaut, in Foren werden die besten gebrauchten Squier-Modelle mit Humbuckern diskutiert und wer wirklich will, kann sich für ein paar hundert Euro ein komplettes Grunge-Setup zusammenstellen – inklusive kaputtem Verstärker.

Affiliate Links
Line6 HX Stomp
Line6 HX Stomp
Kundenbewertung:
(369)
Electro Harmonix Op-Amp Big Muff Pi Fuzz
Electro Harmonix Op-Amp Big Muff Pi Fuzz
Kundenbewertung:
(148)

Fazit: Laut, kaputt, ehrlich – der Sound, der alles veränderte

Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von YouTube. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.

Mehr Informationen

Die Grunge Gitarre ist mehr als nur ein Sound – sie war und ist eine eigene Haltung. In einer Zeit, in der Gitarristen sich gegenseitig mit Technik, Glanz und Glamour überboten, trat der Grunge als Gegengewicht auf: Ungehobelt, wütend und dadurch auf wundersame Weise sehr viel nahbarer.

Was die Grunge Gitarre für mich so besonders macht, ist nicht die Qualität des Equipments, sondern die Absicht dahinter. Es ging um Ausdruck, nicht um Exzellenz. 

Und dieser Geist wirkt bis heute nach und macht mir noch immer wahnsinnig viel Spaß. In einer Welt voller perfekt produzierter Musik ist der Grunge-Sound meine persönliche Erinnerung daran, dass gute Musik manchmal schief sein muss. Egal ob auf der Bühne, im Proberaum oder im Studio: Wer heute zur Gitarre greift, um sich Luft zu machen, trifft oft instinktiv genau den Sound, der den Grunge groß gemacht hat.

Hinweis: Dieser Artikel enthält Werbelinks, die uns bei der Finanzierung unserer Seite helfen. Keine Sorge: Der Preis für euch bleibt immer gleich! Wenn ihr etwas über diese Links kauft, erhalten wir eine kleine Provision. Danke für eure Unterstützung!

ANZEIGE

Die Kommentare sind geschlossen.